Ehemalige Olympia-Sieger kritisieren deutschen Spitzensport

Frühere deutsche Olympia-Sieger haben in Gastbeiträgen für die "Welt am Sonntag" Konsequenzen aus dem insgesamt enttäuschenden Abschneiden Deutschlands bei den Olympischen Spielen in London gefordert und den deutschen Spitzensport kritisiert.

Berlin (dts Nachrichtenagentur) - Sie erkennen viele gravierende Defizite: bei der finanziellen Förderung von Spitzensportlern, den Trainingsstrukturen, der Motivation von Athleten und Trainern sowie der Förderung junger Talente. Die Hochsprung-Olympiasiegerin von 1972 und 1984, Ulrike Nasse-Meyfarth, forderte, dass die Förderung von Nachwuchstalenten schon in der Schulzeit besser werden müsse: "Nach der Schule verzeichnen wir eine hohe Drop-out-Quote, weil viele Sportler mit Perspektive andere Prioritäten setzen. Deswegen müssen wir den jungen Menschen aufzeigen, dass sie nach ihrer aktiven Zeit auch im Hinblick auf ihren Beruf gefördert und unterstützt werden."

Zudem müsse darüber nachgedacht werden, das Training in den Disziplinen "zentralistisch" zu organisieren: "Ich habe den Eindruck, dass viele Sportler in ihren Heimatvereinen vor sich hinwerkeln. Die Besten sollten sich aber untereinander messen und gegenseitig pushen." Ähnlich äußerte sich der Olympiasieger im griechisch-römischen Ringen von 1992, Maik Bullmann.

Er bezeichnete das schlechte deutsche Abschneiden als "absehbar". Verantwortlich dafür sei auch das deutsche Leistungssportsystem, das finanziell schlecht ausgestattet sei: "Es reicht eben nicht mehr für Platz drei oder vier in der Medaillenwertung. Wenn wir mehr wollen, müssen wir auch mehr investieren."

In Deutschland könnten selbst Olympiasieger oft nicht vom Sport leben: "Wer bei uns nicht zur Sportfördergruppe der Bundeswehr, Polizei oder Feuerwehr gehört, ist quasi Amateursportler. Wenn du acht Stunden arbeiten gehst, kannst du nur einmal am Tag trainieren. Und selbst wenn wir manchmal zweimal trainieren, reicht das nicht aus, um oben mitzuringen. Da kannst du dich quälen, wie du willst." Auch Bullmann findet, dass Sportler nicht genug Unterstützung fänden: "Sobald unsere Kinder die Schule beenden, beginnt das Dilemma. Die Konkurrenten fangen dann an, professionell zu trainieren, bei uns machen die meisten amateurhaft weiter." Die achtfache Olympiasiegerin und Kanutin Birgit Fischer betonte Defizite bei der Vorbereitung und Motivation der Sportler: "Wer aber nur halbherzig trainiert, kann im Wettkampf nicht plötzlich Weltklasseleistungen abrufen." Nur mit einem wettkampfnahen Training könne man "Grenzerfahrungen" machen: "Wenn man fühlt, es geht nicht mehr, muss man noch mal losrennen oder -fahren. Nur so verschiebe ich meine Leistungsgrenzen." Fischer sprach sich zudem dafür aus, dass "gute Auswahl- und Sichtungssystem der DDR" zu "reanimieren", um junge Talente zu entdecken. "Erfahrene Übungsleiter sollten bei Schulsportstunden zuschauen dürfen, um Talente zu sichten." Roland Matthes, der 1968 und 1972 Olympiasieger im Schwimmen über 100 und 200 Meter Rücken wurde, findet, viele deutsche Athleten hätten "kein Anspruchsdenken. Das gilt auch für die meisten Funktionäre und Trainer. Ich frage mich nach dem, was ich in London gesehen habe: Leben wir Deutschen im Schlaraffenland, oder sind wir wirklich überhaupt noch heiß auf etwas." Matthes ist zudem der Ansicht, dass in Deutschland ein ähnliches System wie in den USA geschaffen werden müsse, nämlich "ein zentral gesteuertes, wo die Athleten wissen, dass sie durch die Gesellschaft unterstützt werden." Nur wer täglich sieben, acht Stunden trainiere, könne Weltspitze werden. Außerdem müsse es für Trainer Spezialausbildungen geben: "Die heutige junge Trainergeneration redet viel, lebt aber den Beruf nicht, weil sie von den Grundlagen ihres Jobs nur wenig Ahnung hat." Die Olympiasiegerin im Florettfechten von 1988, Anja Fichtel, attestierte der Mehrheit der deutschen Athleten mangelnden Siegeswillen: "Das traf nicht auf alle zu, natürlich, doch die gnadenlose Gier nach einer Medaille, wie wir sie besaßen und wie du sie brauchst, um siegreich zu sein, habe ich nur bei wenigen gespürt." Drei Einzel-Olympiasieger seien einfach zu wenig. Fichtel forderte grundlegende Reformen des Sportbetriebs: "Die einstige Sportnation Deutschland ist in ihrer Entwicklung nicht nur stehen-, sondern zurückgeblieben. Weil unsere Strukturen alt und verkrustet sind. Unser System muss von der Basis her reformiert werden. Viel Geld allein reicht da nicht aus." So müssten Kinder "leichter mit viel Liebe und Begeisterung an den Sport herangeführt werden". Generell mangele es an Selbstkritik: "Wenn heute einer verliert, wird die Niederlage schöngeredet nach dem Motto: Die Ansätze waren doch gut, so schlecht waren wir gar nicht." Auch die Trainer müssten an sich arbeiten: "Wer Sportler auf den Olymp führen will, muss 24 Stunden Trainer sein." Doch die meisten Trainer klebten "nur auf ihren Stühlen".

Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 12.08.2012

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