Ex-Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnt vor Staatskrise

Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier (67), hat die Parteien davor gewarnt, die von Karlsruhe gesetzte Frist für die Neuregelung der Bundestagswahl (bis Ende Juni 2011) ungenutzt verstreichen zu lassen.

Karlsruhe (dts Nachrichtenagentur) - Die Folge könnte eine "schwere Staatskrise" sein, sagte Papier der "Bild-Zeitung" (Samstagausgabe). Auf die Frage, welche Konsequenzen das Verstreichen der Frist hätte, sagte Papier: "Das alte Wahlrecht ist zwar für verfassungswidrig erachtet, aber nicht für nichtig erklärt worden. Es würde daher weiter gelten, aber wenn dann eine Bundestagswahl auf dieser verfassungswidrigen Grundlage stattfindet, dürfte das Bundesverfassungsgericht sie auf eine Wahlprüfungsbeschwerde hin für ungültig erklären, denn die Wahlfehler beträfen die Wahl insgesamt und nicht nur bestimmte Mandate."

Die Folgen wären katastrophal, so der Verfassungsrechtler: "Das wäre eine schwere Staatskrise. Nach einer annullierten Wahl gäbe es keinen Bundestag, der ein verfassungsmäßiges Wahlgesetz erlassen könnte, so dass man auch keine Neuwahl auf verfassungsmäßiger Grundlage abhalten könnte. Deutschland wäre politisch lahmgelegt."

Im Juli 2008 hatte das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe neue Regelungen für Bundestagswahlen gefordert, weil in bestimmten Fällen Parteien mit mehr Stimmen weniger Mandate bekommen können (negatives Stimmengewicht). Bis Ende Juni 2011 sollten sich die Parteien auf ein neues Gesetz einigen. Doch der Streit geht so tief, dass sie die Frist nicht einhalten können.

Das zeigte zuletzt die Debatten im Bundestag in dieser Woche. Doch auch, wenn es keine Wahlen gibt, wäre die Situation nach den Wahlen heikel, so Papier: "Nach dem 30. Juni könnten Parteien oder Wähler vor dem Bundesverfassungsgericht klagen, weil sie bei unverändertem Wahlrecht ihre Rechte verletzt sehen. Das Bundesverfassungsgericht müsste auch diesen Klagen stattgeben. Es könnte dann aber zugleich, wenn alles auf eine verfassungswidrige Wahl hinsteuert, gewissermaßen als Ersatzgesetzgeber Übergangsregeln für die nächste Wahl aufstellen, um deren Verfassungsmäßigkeit zu sichern. Das wäre eine gewaltige Ohrfeige für die Politik, die sich dann selbst ein beispielloses Armutszeugnis ausgestellt hätte." Jetzt sei die Politik am Zuge, sagte Papier. "Noch ist nichts verloren. Ich rate den Parteien zu höchster Anstrengung und mehr Eile. Drei Jahre Zeit für ein neues Gesetz sind mehr als genug."

Meldung der dts Nachrichtenagentur vom 28.05.2011

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